Ich fürchte mich vor leeren Ritualen

Mit Jaromír Typlt spricht Giorgi Lobzhanidze

Sage ein paar Worte über Dich…

Wenn ich über mich sprechen soll, muss ich unbedingt mit meinem Geburtsort anfangen. Und wahrscheinlich auch enden, weil diese eigenartige, melancholisch geheimnisvolle Atmosphäre auf mich sehr starken Einfluss hatte. Ich komme aus einer Hügellandschaft in Nord-Ost-Böhmen, nicht weit von dem Riesengebirge (auf Tschechisch: Krkonoše). Bis heute spricht man vom „Schwärmer“ (oder Träumer, im Original: „blouznivec“) der tschechischen Berge. Warum? Vor allem am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in diesem Gebiet eine sehr starke spiritistische, geistergläubige Bewegung. Und meine Geburtsstadt, Nová Paka, war damals wirklich das Zentrum von dieser Bewegung, sogar mit einem eigenen spiritistischen Verlag und einer Zeitschrift. Heute kannst Du bei uns das Museum mit den ungewöhnlichen Zeichnungen besuchen, die die Medien (Mediumschaften) während der Séancen im Trance geschaffen haben und die jetzt auch in ganz Europa häufig ausgestellt werden. Pflanzen und Tiere von fremden Planeten, Botschaften, geschrieben in ganz unbekannten Schriften, rätselhafte Ornamente… Ist schon klar geworden, warum ich von dem Riesengebirgevorland meine eigene Identität ableite?

Wann hast Du mit der Poesie begonnen?

Jetzt, in meinem Alter, finde ich es selbst unglaublich, aber meinen ersten veröffentlichten Gedichtband habe ich als sechszehnjähriger Gymnasialstudent in der Buchhandlung gesehen. Es war gleich in dem ersten Jahr nach der politischen Wende, im Jahre 1990, aber das Buch wurde schon zwei Jahre davor im Verlag vorbereitet, so – muss ich zugeben – habe ich einige Gedichte in dem Buch schon geschrieben, bevor ich überhaupt meinen Personalausweis bekam. Und bis heute lese ich ab und zu etwas aus dieser Zeit, vor allem das Gedicht über die flüchtigen Hundemeuten (Instinktea). So eine spontane Vision hat man im höheren Alter eher selten, nur ausnahmsweise …

Was ist Poesie für Dich? Eine Art, sich von der Vergangenheit zu befreien, oder ein Weg in die Zukunft?

Beide diese Zeiten sind dafür notwendig! An einem Ende sehe ich die mysteriöse Kraft der uralten Schamanen und Priester, die keine spezielle „dichterische Kunst“ gekannt haben, aber mit dem magischen Wort das Heil, das Wohl und das Gedächtnis der Bevölkerung gehalten und verstärkt haben. Das ist die Vergangenheit, das Erbe, das bis heute in der Poesie spürbar ist. Aber am anderen Ende sehen wir die Zukunft, die wir eigentlich schon jetzt erleben. Diese Welt, in der nichts mehr sicher ist – so tief und schnell wurde alles durch die Technologien verändert. Ich frage mich immer wieder, wie man heute Gedichte so schreiben kann, dass sie zum Beispiel nach einhundert Jahren noch verständlich wären. Ein blödes Wunschbild, sagen einige meine Kollegen dazu: Ihrer Meinung nach soll man die Poesie vor allem heute und für den heutigen Tag schreiben. Und häufig fühle ich selbst, dass ich mich hier um etwas vollkommen Unmögliches bemühe …

Welche Dichter haben Dich beeinflusst?

Ist Ihnen die rätselhafte französische Dichtergruppe Le Grand Jeu (Das Hochspiel) aus den 30er Jahren bekannt? Auch in Frankreich wissen nur wenige Leser etwas über diese Gruppe, trotzdem ist in der tschechischen Poesie ihre Spur bis heute sehr, sehr deutlich. Oder von Henri Michaux, auch so einem Visionär aus dem Umkreis der Surrealisten. Man kann an mir klar sehen, dass die traditionelle Orientierung der modernen tschechischen Poesie an der französischen bis heute überdauert. Sicher bedeutet es nicht, dass man bei uns keinen Einfluss aus der angloamerikanischen oder deutschen – oder russischen und polnischen – fühlt. Im Gegenteil, er ist sehr stark! Und auch für mich war zum Beispiel Gary Snyder sehr wichtig, der die modernen poetischen Formen des Abendlands mit dem östlichen (buddhistischen) Denken überzeugend verknüpft.

Und wenn wir über tschechische Autoren sprechen würden?

Ich werde zuerst den berühmten Bohumil Hrabal nennen, dem ich für vieles dankbar bin. Er konzentriert in seinem Werk wirklich das beste von dem tschechischen Surrealismus, Underground, von dem philosophischen Denken. Und weiter? Der meistbekannte, häufig übersetzte moderne tschechische Dichter ist der „Dunkeldichter“ Vladimír Holan, und auch für mich war er am Anfang sehr wichtig. Jetzt bevorzuge ich deutlich seinen Zeitgenossen František Halas, der wirklich eine tiefe Beziehung zu der unbekannten Welt „dahinten“, nach „nirgendwo“ hatte. Aber wie ich immer im Ausland wiederhole: Nicht einmal Holan oder Halas, nicht einmal der Nobelpreisträger Seifert wäre denkbar ohne den riesigen Einfluss von dem tschechischen romantischen Dichter Karel Hynek Mácha! Er starb im Jahre 1836, aber man kann mit Sicherheit behaupten, dass man in jeder wichtigen Dichtersammlung in Tschechien bis heute ein Echo seiner unverwechselbaren dichterischen Sprache hören kann. So lebendig bleibt er!

Was kannst Du über die neue tschechische Literatur sagen?

Sie ist reich und vielgestaltig, aber leider in den letzten 30 Jahren sehr wenig bekannt, weil die Literaturen der kleinen Nationen für die Welt leider überwiegend nur durch die politischen Erschütterungen interessant sind. Als ein ganz stabiles demokratisches Land in Mitteleuropa werden wir derzeit eigentlich kulturell ignoriert. Aber zu der Charakteristik: In unserer Literatur konnte man immer eine sehr starke Neigung zu den ganz konkreten, alltäglichen, glaubhaften Wirklichkeiten fühlen. Bei uns soll man nie „zu hoch“, zu pathetisch werden, sonst verfolgt einen grausamer Hohn und Spott. Auch bei den symbolischen, geistigen Motiven erwartet der tschechische Leser, dass sie nicht abgeschnitten werden von der Realität. Ein solcher „plebejischer“ Autor ist vor allem: der ausgezeichnete Dichter Ivan Wernisch. Es rührt wahrscheinlich aus der geschichtlichen Erfahrung, dass die Tschechen so misstrauisch sind. Und man könnte hier sicher auch einen Zusammenhang mit dem bekanntermaßen starken Atheismus der tschechischen Gesellschaft finden.

Wofür interessierst Du Dich neben der Poesie? Kann man von der Literaturarbeit leben?

Die Antwort ist klar – das Leben nur aus der Literatur ist in Tschechien undenkbar. Zehn Jahre habe ich als Leiter der kleinen Galerie für zeitgenössische Kunst gearbeitet und auch sonst war ich als Kunstgeschichtsforscher tätig – ich habe eine große Monographie über einen Bildhauer aus der tschechischen Avantgarde, Ladislav Zívr, geschrieben. Auch alle meine Kollegen arbeiten – und verlieren einen großen Teil von ihrer Energie – als Wissenschaftler in den akademischen Institutionen, in Verlagen usw. Vom Standpunkt des zeitgenössischen Liberalismus aus soll das Schreiben nur eine Freizeitaktivität bleiben.

Du hast lange Zeit mit seelisch Kranken Leuten gearbeitet. Was kannst Du über diese Erfahrung sagen?

Diese Arbeit dauerte eigentlich nicht länger als eineinhalb Jahre, es war mein Zivildienst, weil ich kein Soldat werden wollte. Aber in gewissem Sinn beschäftige ich mich mit dieser Welt bis heute. Als Kunstgeschichtsforscher habe ich mein Thema in Art Brut gefunden (man nennt es auch Outsider Art), und sehr viel schreibe ich zum Beispiel über die schizophrenen Zeichnungen von Zdeněk Košek, der wirklich weltberühmt wurde. Er hat geglaubt, dass er mit dem Stift in der Hand das Wetter in der Welt lenkt. Für mich ist es keine Absurdität, ich fühle in diesen Arbeiten die Tiefe von den philosophischen Fragen, die seit jeher dem menschlichen Sein eigen sind. Bis zur Selbstzerstörung… Aus diesem Blickwinkel habe ich auch das Gedicht Fragment B 101 geschrieben. Das erschütternde Echo von dem altgriechischen Hérakleitos im Leben von einem so genannten seelisch kranken, namenslosen Mensch.

In welche Richtung sollte die zeitgenössische Poesie Deiner Meinung nach gehen?

Ich fürchte mich vor leeren Ritualen, in denen kein innerer Grund – kein lebendiges Herz – mehr ist. Leider sind Autorenlesungen und dichterische Vorstellungen häufig nichts mehr als eine auffällige Vorführung von diesen leeren Ritualen. Eine erstarrte und erschöpfte Opferung für die Wörter, die eigentlich niemand wirklich hört. Nicht einmal mehr die Dichter untereinander. Auch aus dem Grund suche ich immer einen Weg, um ein Treffen mit den Gedichten unerwartet zu machen. Mithilfe von Stimme, Klängen, Bildern, graphischer Form. Ich glaube, es ist auch das Erbe der uralten Schamanen und Priester, die ich mir bei der Geburt der Poesie vorstelle. So kann uns auch eine technologisch überraschende multimediale Vorstellung zu dieser Geburt, zu dem Ursprung umwenden. Es kann auch nur ein blödes Wunschbild sein. Aber jeder braucht seinen Irrtum, nicht wahr?

 

Erste Ausgabe (auf Georgisch): Akhali Saunje, Tbilisi 2017.
Danke für Deutsche Redaktion: Lena Dorn.